Wie kann eine Präzisionsmedizin für chronische Entzündungen Realität werden?

Rund 50 Teilnehmende diskutierten ethische, wirtschaftliche und wissenschaftstheoretische Fragen einer Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen auf Kieler Symposium.

Immer mehr Menschen leiden an chronischen Entzündungserkrankungen, wie beispielsweise Morbus Crohn, Schuppenflechte oder Rheuma. Sie sind ein gravierendes Gesundheitsproblem für die Betroffenen und die Gesellschaft insgesamt und verursachen mittlerweile rund die Hälfte der Gesundheitskosten in Deutschland. Die Mitglieder des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) arbeiten intensiv daran, die Früherkennung, Diagnose und Therapie chronischer Entzündungserkrankungen deutlich zu verbessern. Dies möchten sie durch die Etablierung einer Präzisionsmedizin erreichen. Damit ist eine individualisierte Medizin gemeint, die klinische und molekulare Daten des Individuums auswertet und die Therapien präzise auf das Krankheitsbild einer einzelnen Person zuschneidet.

Dieser wesentlich aufwändigere und auch teurere Ansatz der angestrebten Präzisionsmedizin wirft neben medizinischen Herausforderungen auch dringende gesellschaftliche, soziale und ökonomische Fragen auf. Beispielsweise zur Finanzierbarkeit, wissenschaftlichen Evidenz und Gerechtigkeit. Mit diesen beschäftigt sich der Forschungsbereich „RTF IX: Ethik, Epistemologie und Ökonomie“ im Exzellenzcluster PMI. Um den Diskurs dazu auszuweiten, brachte der Forschungsbereich vergangene Woche am 7. und 8. März Vertreterinnen und Vertreter aus Wissenschaft, Gesundheitswesen, Krankenkassen, Patientenorganisationen und Politik zu einem öffentlichen Symposium in Kiel zusammen.

An der Veranstaltung „Die unterschätzte Herausforderung: Chronische Entzündungserkrankungen“ nahmen rund 50 Personen vor Ort teil, weitere waren per Video zugeschaltet. In Vorträgen und Diskussionsrunden beschäftigten sie sich mit folgenden Fragen: Kann eine Präzisionsmedizin chronischer Entzündungskrankheiten evidenzbasiert sein? Wie ist eine Präzisionsmedizin für Menschen mit chronischen Entzündungen finanzierbar? Kann unser Gesundheitswesen gleichen Zugang zu einer Präzisionsmedizin für alle chronisch Kranken gewährleisten? Wie können Patientinnen und Patienten in die Entwicklung einer Präzisionsmedizin für chronische Entzündungskrankheiten einbezogen werden?

Die Politikwissenschaftlerin Barbara Prainsack, Professorin am Institut für Politikwissenschaft, Uni Wien, und Vorsitzende der European Group on Ethics in Science an New Technologies, hielt einen Keynote-Vortrag zum Thema: „Solidarität und Präzisionsmedizin: ein Widerspruch?“. „Ich sehe das Solidaritätsprinzip der gesetzlichen Krankenversicherung durch eine Präzisionsmedizin nicht bedroht. Schon zur Gründung der solidarischen Gesundheitssysteme war man sich darüber im Klaren, dass einige Menschen höhere Kosten verursachen würden. Das nimmt man bewusst mit in Kauf, das ändert sich auch nicht dadurch, dass nun Patientengruppen durch molekulare Kriterien eingeteilt werden“, sagte Prainsack. Die Finanzierung sei letztlich eine politische Frage und keine wissenschaftliche. „Aber andere Entwicklungen, die mit der Präzisionsmedizin verschränkt sind, wie bestimmte Formen der algorithmischen Entscheidungsunterstützung, könnten das solidarische Prinzip unterlaufen“, so Prainsack weiter. Um die Solidarität zu schützen, solle man in den Faktor Mensch und in die sogenannte sprechende Medizin investieren. „Auch Werte und Präferenzen von Patientinnen und Patienten sollten systematisch in den Entscheidungsprozess eingebracht werden“, so Prainsack weiter.

Dafür plädierte auch Professorin Britta Siegmund, Direktorin der Medizinischen Klinik für Gastroenterologie, Infektiologie und Rheumatologie an der Charité Berlin und Vorsitzende des Beirats der Deutschen Morbus Crohn/Colitis Ulcerosa Vereinigung e.V.: „Die Krankheitskontrolle kann von Erkrankten anders als von Ärztinnen und Ärzten wahrgenommen werden. Ärztinnen und Ärzte und Patientinnen und Patienten müssen daher gemeinsam die Ziele einer Therapie erarbeiten. Die Ziele der Patientinnen und Patienten sind genauso wichtig, oder auch wichtiger, als die der Ärztinnen und Ärzte bei der Therapie. Wir müssen die Therapie entsprechend anpassen. Und wir müssen Werkzeuge entwickeln, wie wir routinemäßig die Patientensicht in die Sprechstunde einbauen.“

„Ich freue mich, dass es uns gelungen ist bei unserem Symposium sowohl hochkarätige Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedener Disziplinen, sowie Vertreterinnen und Vertreter aus den betroffenen Bereichen – wie Krankenversicherer, Patientenorganisationen und Politik – zusammen zu bringen und das Thema erstmals in einem größeren öffentlichen Rahmen zur Diskussion zu stellen“, betont eine der Veranstalterinnen, Professorin Claudia Bozzaro, Leiterin der Arbeitsgruppe Medizinethik am Institut für Experimentelle Medizin der Medizinischen Fakultät an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU). „So konnten wir wichtige Impulse für unsere Forschung im Exzellenzcluster PMI sammeln und gleichzeitig wichtige Netzwerke zu entscheidenden Akteuren knüpfen“, so Bozzaro weiter.

„Als interdisziplinärer Exzellenzcluster ist es uns wichtig - in Ergänzung zu unserem medizinischen und naturwissenschaftlichen Schwerpunkt - auch die ethischen, wissenschaftstheoretischen und ökonomischen Aspekte der Präzisionsmedizin in den Blick zu nehmen. Nur so kann eine Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen auch Realität werden“, betont PMI-Clustersprecher Professor Stefan Schreiber. „Diese Forschungsfragen sollen auch weiterhin die Agenda unseres sonst medizinisch-geprägten Exzellenzclusters mitprägen, für deren Weiterförderung wir aktuell den Folgeantrag vorbereiten“, so Schreiber weiter. Der Antrag für eine weitere Förderung in der Exzellenzstrategie von Bund und Ländern wird Ende August eingereicht.

Wissenschaftliche Kontakte:

Prof. Cornelius Borck
Leiter des Instituts für Medizingeschichte und Wissenschaftsforschung
Universität zu Lübeck
0451 3101 3400
cornelius.borck@uni-luebeck.de

Prof. Claudia Bozzaro
Leiterin Arbeitsgruppe Medizinethik, Institut für Experimentelle Medizin
Medizinische Fakultät, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel
0431 500 30331
medizinethik@iem.uni-kiel.de

Dr. Michael Stolpe
Leiter Globale Gesundheitsökonomie
Kiel Institut für Weltwirtschaft
0431 8814 246
Michael.Stolpe@ifw-kiel.de

Sieben Personen auf einer Bühne
© A. Kahlke, Exzellenzcluster PMI/Uni Kiel

Paneldiskussion zum Thema "Wissen und Evidenz: Kann eine Präzisionsmedizin chronischer Entzündungskrankheiten evidenzbasiert sein?"

Ein Mann spricht vor Publikum
© A. Kahlke, Exzellenzcluster PMI/Uni Kiel

Prof. Gerd Antes, ehem. Direktor Cochrane Deutschland, Uni Freiburg, hielt eine Impulsvortrag zum Thema "Präzisionsmedizin ja – aber in Einklang mit wissenschaftlichen Grundprinzipien".

Frau spricht vor Publikum
© A. Kahlke, Exzellenzcluster PMI/Uni Kiel

Prof. Sabine Wöhlke, Department Gesundheitswissenschaften, HAW Hamburg, sprach in einem Impulsvortrag über "Partizipative Patient*innenbeteiligung in der medizinischen Forschung".

Über den Exzellencluster PMI

Der Exzellenzcluster „Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen/Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) wird von 2019 bis 2025 durch die Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert (ExStra). Er folgt auf den Cluster Entzündungsforschung „Inflammation at Interfaces“, der bereits in zwei Förderperioden der Exzellenzinitiative (2007-2018) erfolgreich war. An dem neuen Verbund sind rund 300 Mitglieder in acht Trägereinrichtungen an vier Standorten beteiligt: Kiel (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Muthesius Kunsthochschule, Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) und Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik), Lübeck (Universität zu Lübeck, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein), Plön (Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie) und Borstel (Forschungszentrum Borstel - Leibniz Lungenzentrum).

Ziel ist es, die vielfältigen Forschungsansätze zu chronisch entzündlichen Erkrankungen von Barriereorganen in ihrer Interdisziplinarität verstärkt in die Krankenversorgung zu übertragen und die Erfüllung bisher unbefriedigter Bedürfnisse von Erkrankten voranzutreiben. Drei Punkte sind im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Behandlung wichtig und stehen daher im Zentrum der Forschung von PMI: die Früherkennung von chronisch entzündlichen Krankheiten, die Vorhersage von Krankheitsverlauf und Komplikationen und die Vorhersage des individuellen Therapieansprechens.

Pressekontakt:

Frederike Buhse
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Exzellenzcluster PMI

Exzellenzcluster „Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen“
Wissenschaftliche Geschäftsstelle
Leitung: Dr. habil. Susanne Holstein
Christian-Albrechts-Platz 4, D-24118 Kiel
Sonja Petermann
0431/880-4850. Telefax: 0431/880-4894
spetermann@uv.uni-kiel.de
Twitter: PMI @medinflame