COVID-19: Weltweit erste große genetische Studie zu Risikogenen

Kieler Forschungsteam findet Genvarianten für schweren Verlauf von Covid-19. Die Blutgruppe könnte Einfluss auf die Stärke der Covid-19-Symptome haben.

Warum erkranken manche Menschen schwer an Covid-19, während andere kaum Symptome zeigen? Eine Antwort darauf könnte in ihren unterschiedlichen Blutgruppen liegen. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH) und der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) haben in Zusammenarbeit mit einer Arbeitsgruppe aus Norwegen in der weltweit ersten großangelegten genetischen Studie Genvarianten gefunden, die den Verlauf der Krankheit deutlich beeinflussen – eine davon betrifft das Gen für die Blutgruppeneigenschaft. Federführend bei dem aufsehenerregenden Projekt sind Prof. Dr. Andre Franke, Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie (IKMB) und Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) sowie der Erstautor Prof. Dr. David Ellinghaus und die Erstautorin Frauke Degenhardt, die beide ebenfalls im IKMB tätig sind. Die Studie ist online im renommierten Fachmagazin The New England Journal of Medicine (NEJM) veröffentlicht worden.

Die Untersuchung zeigt, dass Menschen mit der Blutgruppe A ein um etwa 50 Prozent höheres Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 tragen als Menschen mit anderen Blutgruppen. Menschen mit Typ-0-Blut hingegen waren um knapp 50 Prozent besser vor einer ernsten Covid-19-Erkrankung geschützt. Die Untersuchung bestätigte damit – erstmals durch eine umfassende genetische Analyse – zwei frühere Studien internationaler Forscherinnen und Forscher, die anhand des Blutserums von Covid-19-Patienten bereits einen möglichen Zusammenhang zwischen der Blutgruppeneigenschaft und der Erkrankung beschrieben hatten. Eine Analyse der amerikanischen Firma 23andMe validierte die Ergebnisse der Kieler Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in einer unabhängigen Patientenkohorte.

Für die Studiengruppe um den Molekularbiologen Prof. Franke und den norwegischen Internisten Prof. Dr. Tom Karlsen haben Ärztinnen und Ärzte mehrerer Krankenhäuser der Corona-Epizentren in Norditalien und Spanien Blutproben ihrer Covid-19-Patientinnen und –Patienten nach Kiel gesandt: insgesamt Proben von 1.980 Intensivpatientinnen und -patienten, die mit Sauerstoff behandelt oder an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden mussten. Für die Kontrollgruppe wurden aus der Bevölkerung dieser Länder 2.205 zufällig ausgewählte Frauen und Männer gewonnen. Innerhalb von nur zwei Wochen wurde im Institut für Klinische Molekularbiologie in Kiel die DNA aus den Blutproben isoliert und aus jeder einzelnen 8,5 Millionen Positionen des Erbguts mit sogenannten Biochips (SNP-Arrays) vermessen. „Mithilfe dieser großen Datenmenge haben wir wirklich interessante Regionen im Genom identifiziert, die das Risiko für einen schweren Verlauf von Covid-19 verringern beziehungsweise erhöhen“, sagt Prof. Ellinghaus, Wissenschaftler am IKMB und Mitglied im Exzellenzcluster PMI, der die bioinformatischen Analysen durchführte. „Wir konnten, vereinfacht gesprochen, auf einer sehr großen Landkarte zeigen, wo die Musik spielt.“ Insgesamt dauerte die Studie weniger als zwei Monate. „Dieses Tempo war nur möglich, weil alle im Kieler Team an jedem Tag der Woche hart an dem Projekt gearbeitet haben – wir wollten etwas zurückgeben für das Vertrauen, das uns die klinischen Partnerinnen und Partner sowie Patientinnen und Patienten in Spanien und Italien entgegengebracht haben“, sagt die Biostatistikerin Frauke Degenhardt.

Neben der signifikanten Auffälligkeit im AB0-Blutgruppen-Lokus, dem Genort, durch den die individuelle Blutgruppe bestimmt wird, fanden die Forschenden eine noch höhere Effektstärke für eine genetische Variante auf dem Chromosom 3. Welches der mehreren Kandidatengene, die hier lokalisiert sind, dafür verantwortlich ist, ist derzeit nicht bekannt, allerdings konnte die Analyse nachweisen, dass Anlageträgerinnen und -träger einem um 100 Prozent höheren Risiko ausgesetzt sind, schwer an Covid-19 zu erkranken, als Menschen, die diese Variante nicht tragen. Unter den italienischen und spanischen Patientinnen und Patienten, die so krank waren, dass sie nicht nur mit Sauerstoff versorgt, sondern an ein Beatmungsgerät angeschlossen werden mussten, trug eine besonders hohe Zahl diese genetische Anlage. Ein Resultat, das sich ebenso für die Verteilung der Blutgruppen zeigte: Unter den besonders schwer erkrankten Menschen trugen auch besonders viele die Blutgruppe A.

„Die Ergebnisse waren für uns sehr spannend und überraschend“, sagt Prof. Franke. Gerade das Chromosom 3 war noch niemals zuvor von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern mit Covid-19 in Zusammenhang gebracht worden. In anderen Regionen im Genom, für die ein Effekt auf die Erkrankung vermutet worden war,  zeigten sich hingegen keine starken Unterschiede zwischen den gesunden Probanden und den Patienten; so weder in jenem Chromosomenabschnitt 6p21, der mit dem Immunsystem und Infektionserkrankungen assoziiert ist, noch in dem Gen IFITM3, das mit der Influenza in Zusammenhang gebracht wird.

 „Mit dem Chromosom 3 und dem AB0-Blutgruppen-Lokus beschreiben wir echte Ursachen für den schweren Verlauf von Covid-19“, sagt Prof. Franke. „Unsere Ergebnisse schaffen daher eine hervorragende Grundlage für die Entwicklung von Wirkstoffen, die an den gefundenen Kandidatengenen ansetzen können. Eine klinische Studie, in der etwa ein Medikament getestet wird, hat erwiesenermaßen doppelt so häufig Erfolg, wenn eine genetische Evidenz für das Therapieziel bereits vorliegt.“ Auch könnten die Resultate zu einer verbesserten Risikoabschätzung für die mögliche Zahl schwer Erkrankter in der Bevölkerung beitragen.

Kontakt:
Prof. Dr. Andre Franke
Institut für Klinische Molekularbiologie, CAU und UKSH
 0431 500-15110
 a.franke@ikmb.uni-kiel.de

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© UKSH

Prof. Dr. Andre Franke, Vorstandsmitglied im Exzellenzcluster "Precision Medicine in Chronic Inflammation" (PMI) und Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie (IKMB) der CAU und des UKSH, mit seiner Arbeitsgruppe.

Gruppenfoto
© UKSH

Prof. Dr. David Ellinghaus und Frauke Degenhardt, Erstautor und Erstautorin der Studie.

Originalpublikation:

David Ellinghaus, Frauke Degenhardt et. al: Genomewide Association Study of Severe Covid-19 with Respiratory Failure. NEJM (2020). DOI: 10.1056/NEJMoa2020283

 

 

Über den Exzellencluster PMI

Der Exzellenzcluster „Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen/Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) wird von 2019 bis 2025 durch die Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert (ExStra). Er folgt auf den Cluster Entzündungsforschung „Inflammation at Interfaces“, der bereits in zwei Förderperioden der Exzellenzinitiative (2007-2018) erfolgreich war. An dem neuen Verbund sind rund 300 Mitglieder in acht Trägereinrichtungen an vier Standorten beteiligt: Kiel (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Muthesius Kunsthochschule, Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) und Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik), Lübeck (Universität zu Lübeck, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein), Plön (Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie) und Borstel (Forschungszentrum Borstel - Leibniz Lungenzentrum).

Ziel ist es, die vielfältigen Forschungsansätze zu chronisch entzündlichen Erkrankungen von Barriereorganen in ihrer Interdisziplinarität verstärkt in die Krankenversorgung zu übertragen und die Erfüllung bisher unbefriedigter Bedürfnisse von Erkrankten voranzutreiben. Drei Punkte sind im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Behandlung wichtig und stehen daher im Zentrum der Forschung von PMI: die Früherkennung von chronisch entzündlichen Krankheiten, die Vorhersage von Krankheitsverlauf und Komplikationen und die Vorhersage des individuellen Therapieansprechens.

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