„LifeTime“-Initiative: Eine neue, zellbasierte Medizin in Europa

EU-Initiative mit Kieler Beteiligung will menschliche Zellen im Laufe des Lebens verfolgen, Veränderungen erkennen und so Krankheiten gezielt abfangen.

Hunderte von Beteiligten aus Forschung, Klinik und Industrie sowie Politik aus ganz Europa verbindet eine gemeinsame Vision, mit der sie die Gesundheitsversorgung verbessern wollen. In zwei Veröffentlichungen – einem Perspektiv-Artikel in Nature und der „LifeTime Strategic Research Agenda“ (SRA) – präsentieren sie nun einen detaillierte Strategieplan. Sie beschreibt, wie man neueste wissenschaftliche Durchbrüche und Technologien bereits innerhalb der nächsten zehn Jahre nutzen könnte, um menschliche Zellen lebenslang zu verfolgen, ihren Zustand zu verstehen und kranke Zellen gezielt zu behandeln. Der Perspektivartikel ist am heutigen Montag (7. September 2020) in der renommierten Fachzeitschrift Nature erschienen. 

Die „LifeTime“-Initiative, an der auch Mitglieder des Exzellenzclusters „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) von der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) beteiligt sind, hat eine Strategie entwickelt, um maßgeschneiderte Behandlungen in fünf großen Krankheitsfeldern voranzubringen: Krebs, neurologische, infektiöse und chronisch-entzündliche Krankheiten sowie Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Das Ziel ist eine neue personalisierte Medizin in ganz Europa, die Abweichungen in einzelnen Zellen erkennt und eingreift, bevor Symptome entstehen, die Krankheit also abfängt. Sie hat das Potenzial, die Therapieergebnisse zu verbessern und die Behandlung kostengünstiger zu gestalten.

Krankheiten früh erkennen und effektiver behandeln

Um einen funktionierenden, gesunden Körper zu bilden, folgen unsere Zellen bestimmten Entwicklungspfaden, auf denen sie bestimmte Rollen im Gewebe und in Organen übernehmen. Weichen sie jedoch vom gesunden Pfad ab, verändern sich die Zellen allmählich immer mehr. Diese Veränderungen bleiben oft unentdeckt, bis Symptome auftreten. Zu diesem Zeitpunkt der Erkrankung ist eine medizinische Behandlung jedoch oft invasiv, teuer und ineffizient. Es gibt allerdings Technologien, die die molekulare Zusammensetzung einzelner Zellen abbilden und mit denen man das Auftreten einer Krankheit oder einer Therapieresistenz deutlich früher erkennen kann. Mithilfe modernster Einzelzell- und Bildgebungsmethoden, kombiniert mit künstlicher Intelligenz und personalisierten Krankheitsmodellen, wollen die Beteiligten von „Life Time“ nicht nur den Ausbruch einer Krankheit früher vorhersagen, sondern auch die wirksamste Therapie für jede Patientin oder jeden Patienten auswählen. Der Fokus liegt dabei auf den krankheitsauslösenden Zellen, um den Verlauf einer Krankheit rechtzeitig zu unterbrechen, bevor irreparable Schäden auftreten. Das könnte die Prognose für viele Patientinnen und Patienten erheblich verbessern; in Europa könnten so potenziell krankheitsbedingte Kosten in Milliardenhöhe eingespart werden.   

Ein detaillierter Fahrplan, damit die Vision der LifeTime-Initiative Wirklichkeit wird

Der Nature-Artikel „LifeTime and improving European healthcare through cell-based interceptive medicine“ und die „LifeTime Strategic Research Agenda“ (SRA) erläutern, wie diese Technologien rasch gemeinsam entwickelt, in die klinische Praxis überführt und auf die fünf wichtigsten Krankheitsbilder angewendet werden sollten. Eine enge Zusammenarbeit zwischen europäischen Infrastruktur- und Forschungseinrichtungen, Kliniken und der Industrie ist unerlässlich, um im Rahmen der „LifeTime“-Initiative große Mengen an medizinischen Daten über die Grenzen Europas hinweg zu generieren, auszutauschen und zu analysieren. Die Initiative befürwortet eine ethisch verantwortungsvolle Forschung zum Nutzen der Bürgerinnen und Bürger in ganz Europa. 

Für Professor Nikolaus Rajewsky, wissenschaftlicher Direktor des Berliner Instituts für Medizinische Systembiologie (BIMSB) am Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin und Koordinator der „LifeTime“-Initiative, ist genau dieser Ansatz der Weg in die Zukunft: „LifeTime hat Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen zusammengebracht – von Expertinnen und Experten aus der Biologie über die Datenwissenschaft und Ingenieurswissenschaft bis hin zu Mathematik und Physik – um die molekularen Mechanismen besser zu verstehen, die für Gesundheit und Krankheit verantwortlich sind. Mithilfe der zellbasierten Medizin können Ärztinnen und Ärzte in Zukunft Krankheiten früher diagnostizieren und behandeln, noch bevor irreparable Schäden entstehen. „LifeTime“ bietet das einzigartige Leistungsversprechen, die Gesundheit der Patientinnen und Patienten Europa zu verbessern.“

Dr. Geneviève Almouzni, Forschungsdirektorin am französischen CNRS, Ehrendirektorin des Forschungszentrums am Institut Curie in Paris und Ko-Koordinatorin der „LifeTime“-Initiative, ist davon überzeugt, dass „LifeTime“ große soziale und wirtschaftliche Auswirkungen haben wird: „Durch eine zellbasierte Medizin, die Krankheiten abfängt, können wir die Behandlung zahlreicher Erkrankungen erheblich verbessern. Patientinnen und Patienten in aller Welt können so ein längeres und gesünderes Leben führen. Auch die wirtschaftlichen Auswirkungen dürften erheblich sein, wenn allein durch eine effektivere Krebsbehandlung Milliarden von Euro eingespart würden und die Behandlungsdauer intensivpflichtiger COVID-19-Patientinnen und Patienten erheblich verkürzt würde. Wir hoffen, dass die Staats- und Regierungschefinnen und -chefs der EU erkennen, dass wir jetzt in die notwendige Forschung investieren müssen.“

In Kiel beteiligt sich Professor Philip Rosenstiel an der Initiative, Vorstandsmitglied des Exzellenzclusters PMI und Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie (IKMB) der CAU und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein (UKSH), Campus Kiel. Er koordiniert in der Initiative den Teilbereich, der sich mit chronischen Entzündungen befasst, also der Kernkompetenz des Exzellenzclusters PMI. „Wir erhoffen uns eine Stärkung der europäischen Forschungsarbeit, um gemeinsam Krankheiten künftig auf Vorgänge in einzelnen Zellen herunterbrechen zu können“, sagt Rosenstiel. „Mit der sogenannten Einzelzellsequenzierung können wir Tausende von Zellen eines Menschen gleichzeitig analysieren und danach die individuelle Entzündungsreaktion in Zellmodellen nachstellen. Wir hoffen so die Fehlprogrammierung bestimmter Immunzellen besser zu verstehen und dieses Wissen für die Auswahl der Therapieverfahren nutzbar zu machen“, erklärt Rosenstiel weiter.

 

Über LifeTime

Die "LifeTime"-Initiative ist eine stetig wachsende Community, die aus über 100 führenden europäischen Forschungseinrichtungen und Kliniken sowie internationalen Beraterinnen und Beratern und mehr als 80 unterstützenden Unternehmen besteht. International renommierte europäische Forschungsgruppen, die Multi-Omics-Strategien, wissenschaftliche Infrastrukturen, Bio-Imaging und Computertechnologien entwickeln und im Bereich personalisierter Krankheitsmodelle führend sind, gehören zu "LifeTime". Ebenso sind Bioethikerinnen und Bioethiker und eine Kerngruppe federführender klinischer Forschenden Teil der Initiative. Viele der beteiligten Institutionen verfügen über eigene translationale/klinische Forschungseinrichtungen und Kliniken oder arbeiten mit solchen zusammen. So wird sichergestellt, dass "LifeTime"-Erkenntnisse rasch in die klinische Praxis überführt werden können.

Website der “LifeTime”-Initiative

Miniatur-Chips für Einzellzellanalyse
© Felix Petermann, MDC/LifeTime

Vergrößerung von Miniatur-Chips: Einzelne Zellen werden in winzige Tröpfchen eingekapselt und mit Reagenzien zur Weiterverarbeitung versehen.

Mikrokopische Aufnahme
© Felix Petermann, MDC/LifeTime

Zellen, die aus Gewebe isoliert werden, werden in Miniaturchips zur Verarbeitung einzelner Zellen kanalisiert.

Philip Rosenstiel
© Tebke Böschen, PMI

Prof. Dr. Philip Rosenstiel, Vorstandsmitglied im Exzellenzcluster „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) und Direktor des Instituts für Klinische Molekularbiologie, CAU, UKSH, koordiniert in der LifeTime-Initiative den klinischen Teil zu chronischen Entzündungen.

Originalpublikationen:

Wissenschaftlicher Kontakt

Prof. Dr. Philip Rosenstiel
Institut für Klinische Molekularbiologie (IKMB)
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU), Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH)
0431/500-15111
p.rosenstiel@mucosa.de

Pressekontakt LifeTime

Valentin Popescu
Kommunikationsmanager der LifeTime-Initiative
Max Delbrück Center for Molecular Medicine in the Helmholtz Association (MDC)
030/9406-2136
valentin.popescu@mdc-berlin.de  

Über den Exzellencluster PMI

Der Exzellenzcluster „Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen/Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) wird von 2019 bis 2025 durch die Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert (ExStra). Er folgt auf den Cluster Entzündungsforschung „Inflammation at Interfaces“, der bereits in zwei Förderperioden der Exzellenzinitiative (2007-2018) erfolgreich war. An dem neuen Verbund sind rund 300 Mitglieder in acht Trägereinrichtungen an vier Standorten beteiligt: Kiel (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Muthesius Kunsthochschule, Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) und Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik), Lübeck (Universität zu Lübeck, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein), Plön (Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie) und Borstel (Forschungszentrum Borstel - Leibniz Lungenzentrum).

Ziel ist es, die vielfältigen Forschungsansätze zu chronisch entzündlichen Erkrankungen von Barriereorganen in ihrer Interdisziplinarität verstärkt in die Krankenversorgung zu übertragen und die Erfüllung bisher unbefriedigter Bedürfnisse von Erkrankten voranzutreiben. Drei Punkte sind im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Behandlung wichtig und stehen daher im Zentrum der Forschung von PMI: die Früherkennung von chronisch entzündlichen Krankheiten, die Vorhersage von Krankheitsverlauf und Komplikationen und die Vorhersage des individuellen Therapieansprechens.

Pressekontakt:

Frederike Buhse
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Exzellenzcluster PMI

Exzellenzcluster „Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen“
Wissenschaftliche Geschäftsstelle
Leitung: Dr. habil. Susanne Holstein
Christian-Albrechts-Platz 4, D-24118 Kiel
Sonja Petermann
0431/880-4850, Telefax: 0431/880-4894
spetermann@uv.uni-kiel.de
Twitter: PMI @medinflame