Auf frischer Tat ertappt: Wie Bakterien gesunde Zellen in Krebszellen umwandeln

Ein Forschungsteam unter Leitung des Kieler Seniorprofessors und PMI-MItglieds Thomas F. Meyer konnte zeigen, wie ein Gift von E. coli-Bakterien Zellen zu Krebs transformiert.

Darmkrebs ist die zweittödlichste Krebsart. Neuere Forschungserkenntnisse deuten darauf hin, dass das Darmmikrobiom, also die Gesamtheit der im Darm lebenden Mikroorganismen, eine wichtige Rolle bei der Entstehung und beim Fortschreiten des Krebses spielt. So führen beispielsweise Störungen des Mikrobioms im Darm zu Entzündungen, die zur Krebsentstehung beitragen. Zusätzlich können offenbar bestimmte Darmbakterien direkt das Erbgut der Darmzellen schädigen und zwar mithilfe von sogenannten Genotoxinen. Das sind Gifte, die die DNA so verändern können, dass Mutationen entstehen, die schließlich zu Krebs führen. Einem Forschungsteam unter der Leitung des Seniorprofessors der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel (CAU) Thomas F. Meyer ist es nun gelungen, ein bestimmtes Bakterium und sein Genotoxin quasi „auf frischer Tat“ zu ertappen. Sie konnten also den Prozess beobachten, bei dem das Gift für Darmkrebszellen charakteristische Veränderungen an der Wirts-DNA hervorruft, und das bereits wenige Stunden nach der Infektion mit den Bakterien. Ihre Ergebnisse haben sie am heutigen Freitag (12.02.2021) in der renommierten Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht.

Das Bakterium Escherichia coli (kurz: E. coli) ist ein häufiger Bestandteil des Darmmikrobioms. Einige Stämme dieser Bakterienart produzieren das Genotoxin Colibactin. Mehr als zwei Drittel der Darmkrebspatientinnen und -patienten tragen Colibactin-produzierende E. coli-Stämme in ihrem Darm. Besonders häufig sind sie bei Darmkrebsarten verbreitet, die mit chronischen Darmentzündungen wie Morbus Crohn und Colitis Ulcerosa im Zusammenhang stehen. Neuere Forschungsarbeiten haben zudem gezeigt, dass Colibactin spezifische Veränderungen an der DNA der Darmzellen hervorruft. Den ersten eindeutigen Beweis für einen Zusammenhang zwischen diesen Bakterienstämmen und Darmkrebs konnte Prof. Meyer, der auch Mitglied im Exzellenzcluster „Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) ist,  mit seinem damaligen Team vom Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie in Berlin (MPIIB) vor kurzem liefern: Die Forschenden haben eine genetische Signatur, also eine spezifische genetische Veränderung, identifiziert, die Colibactin in den Wirtszellen hinterlässt, und konnten zeigen, dass sich diese spezifische Veränderung in den Krebszellen einer bestimmten Untergruppe von Darmkrebs wiederfindet. Aber da der Krebs viele Jahre braucht, um sich zu entwickeln, blieb der eigentliche Prozess, wie aus einer gesunden Zelle eine Krebszelle wird, weiter unklar.

Im Zellmodell führt Colibactin zur unkontrollierten Vermehrung

Genau diese Transformation konnte das Forschungsteam vom MPIIB nun erstmals im Labor nachvolllziehen. Dazu haben sie mit sogenannten Organoiden gearbeitet. Bei dieser neuen Technologie werden Dickdarm-Schleimhautzellen in der Petrischale in Form von dreidimensionalen Kugeln gezüchtet. Mit ihrer Hilfe können Forschende zelluläre Prozesse im Darm an lebenden Zellen in der Petrischale beobachten. Diese hohlen „Mini-Organe“ werden aus adulten Stammzellen aus dem Darm generiert, aus denen dort normalerweise spezialisierte Zellen für die Darmschleimhaut entstehen.

Das Team gab auf ihre Organoide Colibactin-produzierende E. coli, um zu testen, ob diese einen dauerhaften Effekt auf die Darmzellen haben.  Bereits nach drei Stunden konnten sie Veränderungen finden, die für Darmkrebs charakteristisch sind. „Zunächst begannen die Zellen sich schneller als normal zu vermehren – das bekannteste Merkmal von Krebszellen. Besonders bemerkenswert war allerdings, dass einige Zellen nach der Infektion mit Colibactin-produzierenden E. coli, anders als normale Stammzellen, ohne den Wachstumsfaktor „Wnt“ im Nährmedium überleben konnten“, erklärt Prof. Meyer.

Stammzellen haben das Potential sich in die verschiedensten Zellen des Körpers umzuwandeln. So bilden sich aus Darmstammzellen kontinuierlich neue spezialisierte Darmzellen, die dann Verdauungsfunktionen übernehmen und sich nicht mehr weiter vermehren. „Der Wachstumsfaktor Wnt sorgt im gesunden Gewebe dafür, dass sich die Darmstammzellen vermehren und somit immer genug von ihnen für die Erneuerung der Darmzellen vorhanden sind. Sobald die Stammzellen aus dieser Wnt-haltigen Umgebung heraustreten, entwickeln sie sich zu spezialisierten Darmzellen, die sich nicht weiter vermehren. Durch diesen Mechanismus wird auch eine unkontrollierte Vermehrung der Zellen außerhalb der Wnt-haltigen Umgebung verhindert“, erklärt der andere Hauptautor PD Dr. Michael Sigal, der vor kurzem an der Berliner Charité eine eigene Arbeitsgruppe zum Thema gegründet hat. Wenn es Zellen jedoch gelingt, sich unabhängig von dem Wnt-Signal zu vermehren, entsteht unkontrolliertes Wachstum, eine Vorstufe von Krebs. Das gleiche Phänomen kann auch im Organoid beobachtet werden: Die Organoid-Zellen benötigen kontinuierlich Wnt, um sich zu vermehren; ohne diesen Wachstumsfaktor differenzieren sie genau wie im gesunden Darm aus, verwandeln sich in spezialisierte Zellen und sterben eine Zeit danach ab. „Als wir die mit E. coli infizierten Kulturen in ein Wnt-freies Medium überführten, überlebten jedoch einige wenige Zellen und bildeten weiterhin schnell wachsende Organoide. So eine Unabhängigkeit vom Wachstumsfaktor ist ein typisches Merkmal von frühen Darmkrebszellen“, sagt Dr. Amina Iftekhar, Erstautorin der Studie und ehemalige Doktorandin am MPIIB.

Chromosomale Veränderungen führen möglicherweise zur Krebsentstehung

Als nächstes haben die Forschenden die DNA der Organoidzellen nach der Behandlung mit Colibactin-produzierenden E. coli analysiert. Die Sequenzierung ergab, dass das Erbgut zahlreiche Mutationen enthielt, darunter auch große strukturelle Veränderungen in der DNA: Ganze Abschnitte von Chromosomen, also den Strukturen in denen die DNA-Stränge organisiert sind, waren hinzugekommen, verloren gegangen oder umgeordnet. Solche großen chromosomalen Restrukturierungen finden sich in den meisten Darmkrebszellen. Diese Beobachtung könnte eine wichtige Erklärung für eine bisher unbeantwortete Frage liefern: Die spezifische genetische Signatur, die Colibactin in den Darmzellen hinterlässt, wie Prof. Meyer mit seinem Team in der vorangegangenen Studie zeigen konnte, findet sich nur in etwa 10 % der Darmkrebspatientinnen und -patienten. Und das obwohl die meisten der Darmkrebspatientinnen und -patienten Colibactin-produzierende E.coli in sich tragen. „Demnach würden wir eigentlich erwarten, dass durch Colibactin hervorgerufene genetische Veränderungen in deutlich mehr Darmkrebs-Fällen vorhanden sind. Und darauf deuten unsere neuen Ergebnisse nun auch hin“, erklärt Prof. Meyer.

Colibactin vernetzt die DNA-Stränge an bestimmten Stellen miteinander. Das versucht die Zelle mit ihren Reparaturmechanismen wieder möglichst genau zu reparieren und dabei hinterlässt Colibactin in manchen Fällen seinen spezifischen Fingerabdruck in der DNA. „Die präzise Reparatur funktioniert jedoch häufig nicht; dann kommt es zu verpfuschten Reparaturen, die zu den bei Darmkrebs häufig beobachteten groben chromosomalen Veränderungen führen. Wir vermuten, dass diese Veränderungen, die durch die falsche Reparatur entstehen, die eigentliche Basis für die Krebsentstehung bilden“ so Meyer weiter.

„Welche Faktoren beeinflussen, wie die Zelle die Verknüpfung versucht zu beseitigen, wissen wir noch nicht“, sagt Prof. Meyer. Das möchte er zukünftig auch in seiner neugegründeten Arbeitsgruppe „Infektionsonkologie“ am Institut für klinische Molekularbiologie der CAU und des Universitätsklinikums Schleswig-Holstein, gemeinsam mit dem Exzellenzcluster PMI genauer untersuchen.

Wissenschaftlicher Kontakt:

Prof. Dr. Thomas F. Meyer
Arbeitsgruppe Infektionsonkologie
Institut für klinische Molekularbiologie (IKMB)
Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und Universitätsklinikum Schleswig-Holstein
t.meyer@ikmb.uni-kiel.de

Mikroskop-Aufnahmen
© MPI for Infection Biology/ Amina Iftekhar.

Rechts: Die Immunfluoreszenzfärbung zeigt, dass genotoxische Colibactin-produzierende E. coli (grün) DNA-Schäden (weiß) und eine abnorme Vergrößerung der Zellen verursachen. Phalloidin (rot) färbt die Aktinfilamente der Zellen (also Teile des Zellskeletts), die DNA ist blau dargestellt.

Links: Bei Zellen, die mit E. coli infiziert sind, die Colibactin nicht herstellen, wird dieser Effekt nicht beobachtet.

Portraitfoto
© Max-Planck-Institut für Infektionsbiologie / David Ausserhofer

Professor Thomas F. Meyer, Seniorprofessor an der Medizinischen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität und Mitglied im Exzellenzcluster "Precision Medicine in Chronic Inflammation" (PMI).

Originalpublikationen:

  1. Amina Iftekhar et al.: Genomic aberrations after short-term exposure to colibactin-producing E. coli transform primary colon epithelial cells. Nature communications (2021). https://doi.org/10.1038/s41467-021-21162-y
  2. Dziubańska-Kusibab PJ et al.: Colibactin DNA-damage signature indicates mutational impact in colorectal cancer. Nature Medicine (2020), https://doi.org/10.1038/s41591-020-0908-2

Über den Exzellencluster PMI

Der Exzellenzcluster „Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen/Precision Medicine in Chronic Inflammation“ (PMI) wird von 2019 bis 2025 durch die Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder gefördert (ExStra). Er folgt auf den Cluster Entzündungsforschung „Inflammation at Interfaces“, der bereits in zwei Förderperioden der Exzellenzinitiative (2007-2018) erfolgreich war. An dem neuen Verbund sind rund 300 Mitglieder in acht Trägereinrichtungen an vier Standorten beteiligt: Kiel (Christian-Albrechts-Universität zu Kiel, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein, Muthesius Kunsthochschule, Kiel Institut für Weltwirtschaft (IfW) und Leibniz-Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften und Mathematik), Lübeck (Universität zu Lübeck, Universitätsklinikum Schleswig-Holstein), Plön (Max-Planck-Institut für Evolutionsbiologie) und Borstel (Forschungszentrum Borstel - Leibniz Lungenzentrum).

Ziel ist es, die vielfältigen Forschungsansätze zu chronisch entzündlichen Erkrankungen von Barriereorganen in ihrer Interdisziplinarität verstärkt in die Krankenversorgung zu übertragen und die Erfüllung bisher unbefriedigter Bedürfnisse von Erkrankten voranzutreiben. Drei Punkte sind im Zusammenhang mit einer erfolgreichen Behandlung wichtig und stehen daher im Zentrum der Forschung von PMI: die Früherkennung von chronisch entzündlichen Krankheiten, die Vorhersage von Krankheitsverlauf und Komplikationen und die Vorhersage des individuellen Therapieansprechens.

Pressekontakt:

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Exzellenzcluster „Präzisionsmedizin für chronische Entzündungserkrankungen“
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